Shopping Town USA
Victor Gruen und die Shopping MallAnette Baldauf
Victor Gruen war einer der einflussreichsten Architekten des 20. Jahrhunderts: Er gilt als Vater der Shopping Mall. Wie grundlegend sein Konzept die Welt verändern würde, konnte selbst der als gigantomanisch bekannte Emigrant aus Wien nicht ahnen. In den fünfziger Jahren baute Gruen in der zersiedelten Vorstadt US-Amerikas großangelegte “Shopping Towns”. Nach dem Modell europäischer Stadtzentren sollten diese nicht nur das Einkaufen erleichtern, sondern mit ihrem Mix an kommerziellen und sozialen Räumen auch das zivilgesellschaftliche Leben in der isolierten Vorstadt stärken. Aber im Kontext einer zunehmend auf Konsum und Spekulation ausgerichteten Ökonomie wurde aus dem polyfunktionalen Einkaufs-Stadtzentum eine gigantischen Verkaufsmaschine, die die Entwicklung der Städte nicht nur in den USA maßgeblich prägte. Bis heute beschreibt in der Architektur der “Gruen-Effekt” jenen Sog, der Einkaufende mit Hilfe verführerisch gestalteter Verkaufsräume dazu bringt, zielstrebiges Einkaufen aufzugeben und sich im Shopping zu verlieren. Mit der sukzessiven Übertragung der Prinzipien der Shopping Mall auf die Innenstadt produziert dieses Phänomen heute die Stadt als Ort des Kommerz, der Inszenierung von Lifestyle, Distinktion und Event; es beschreibt die Hervorbringung einer Innenstadt, die den Göttern der Warenwelt huldigt und Konsum als oberstes Prinzipien der Stadtplanung definiert.
Victor Gruen, geboren 1903 in Wien als Viktor David Grünbaum, hatte noch im Wien der Zwischenkriegsjahre im Zuge des Umbaus mehrerer Geschäftslokale großes Aufsehen erregt: 1936 versetzte Grünbaum bei der Renovierung des Stoffausstatters Singer beispielsweise die Struktur des Geschäftes einige Meter hinter den Gehsteig zurück und schuf so an der Schnittfläche zwischen Straße und Geschäft einen öffentlich zugänglichen Arkadenraum. Gerahmt von großflächigen Schaufenstern und zentriert von einer dramatisch beleuchteten Glasvitrine, lud der im Überlappungsbereich hervorgebrachte Raum die PassantInnen ein, sich dem forttreibenden Bewegungsfluss der Straße zu entreißen und, zumindest kurzfristig, den Textilien im Schaufenster ebenso wie dem bunten Treiben des Stadtlebens nachzusinnen.
Zwei Jahre nach der Eröffnung des Singer-Geschäfts stellten die Zeitschriften Glas. Österreichs Glaserzeitung, Architectural Review und L’Architecture D’aujourd’hui Grünbaums Arbeiten in Wien vor. Die Zusammenstellung der Projekte – Parfümerie Bristol, Herrenmode Deutsch, Parfümerie Guerlain, der erwähnte Singer und Frauenmode Löwenfeld (alle zwischen 1935 und 1937) – illustrierte eine deutliche Kontinuität der Grünbaum-Interventionen: Ausgedehnte Schaufenster und dramatische Glasfronten verwandelten kleine Boutiquen in phantasmagorische Ausstellungsflächen. Sie dehnten das Konzept des Schaufensters auf das ganze Geschäft aus und definierten dieses als Bühne des urbanen Lebens. Dabei perforierten die Interventionen die Grenze zwischen Theater und Alltag, Strasse und Geschäft, privatem und öffentlichem Raum. In dem Zwischenraum konnten die Einkaufenden anwesend und gleichzeitig abwesend sein, hier und gleichzeitig auf Distanz zu den Zwängen des Alltags.
Neben seiner Arbeit als Architekt engagierte Viktor Grünbaum sich als Moderator des 1934 verbotenen Politischen Kabaretts (u.a. mit Jura Soyfer). Auf der Bühne vollführte er einen gefährlichen Balanceakt zwischen politischem Aktivismus, antifaschistischem Widerstand und Unterhaltung. Am 9. Juni 1938 gelang ihm mit seiner ersten Frau Alice Kardos mit Hilfe eines als SA-Mann verkleideten Freundes im letzten Moment die Flucht, zuerst in die Schweiz und dann in die USA. Bereits ein Jahr nach seiner Ankunft wurde er in New York vom ebenfalls aus Wien geflohenen Geschäftsmann Ludwig Lederer beauftragt, gemeinsam mit seiner zweiten Frau, Elsie Krummeck, eine Boutique auf der Fifth Avenue zu gestalten. Grünbaum, der sich nach der Einbürgerung in die USA Victor D. Gruen nannte, präsentierte Lederer folgende Vision: “Entlang der Fifth Avenue ein zum Gehsteig hin offenes Atrium zu schaffen, in dem sich die gehetzten Fußgänger wie in einem Auffangbecken sammeln können .... An den zwei Seitenwänden und an der Rückwand dieses Atriums würden sechs kleine individuelle Glasvitrinen herausragen, an der Rückwand würde eine Vollglastüre sowohl Einblick wie Eintritt in das Geschäftsinnere ermöglichen… Die Decke des Atriums würde aus durchlässigem Glas bestehen und unsichtbare Lichtquellen darüber würden den offenen Vorplatz gleichmäßig … erhellen. In der Mitte des neu geschaffenen Außenraumes sah ich einen gläsernen Ausstellungstisch vor mir… Diese und auch die Verkaufsobjekte in den Vitrinen würden durch kleine verborgene, sehr starke Scheinwerfer, wie sie im Theater verwendet werden, auch am Tag hell angestrahlt werden...” . 1)
Mit Unterstützung der Entwürfe der Innenausstatterin Elsie Krummeck und der Lizenz des Architekten Morris Ketchum fand Gruens Plan 1939 auf der Fifth Avenue in New York seine aufsehenerregende Realisierung. Gruen griff das bereits in Wien verfolgte Konzept des Schaufensters als Bühnenraum auf und sprach mit der Inszenierung einer theatralisch beleuchteten Kulisse die PassantInnen als potentielle PerformerInnen und ShopperInnen an. Architekturzeitschriften, Handelsblätter und Tageszeitungen berichteten euphorisch von der neuen Inspiration im Bereich Geschäftsarchitektur. Das New Yorker Museum of Modern Art integrierte Abbildungen des Geschäfts in dem vom Museum veröffentlichten Führer der Modernen Architektur.
15 Jahre nach der erfolgreichen Eröffnung der Lederer-Boutique in New York gelang es Gruen, die Vision des schützenden Auffangbeckens in die zerfransten Siedlungsgebiete der boomenden US-amerikanischen Vorstadtlandschaft zu übersetzen. Er vergrößerte den in Wien und New York erprobten Maßstab um das eintausendfache und führte damit das erste regionale Einkaufszentrum und ein Stadtexperiment in bis dahin unbekannter Dimension ein. Waren die Arkadenräume der Geschäfte in Wien und in New York noch durch einen beleuchteten Vitrinentisch zentriert worden, so markierte in der Vorstadt Detroits die Blockformation des Kaufhauses J. L. Hudson das Zentrum des 44.000 Quadratmeter großen Areals. Die Idee der Arkade erweiterte Gruen im Einkaufszentrum durch einen mit Brunnen, Bänken, verspielten Skulpturen und bunten Mosaiken ausgestatteten, weitläufigen Hof, den nach außen hin die großflächigen Schaufenster jener Geschäfte rahmten, die nun in fünf u-förmig um den Hof arrangierten Gebäudekomplexen untergebracht waren. An der Schnittstelle zwischen Hof und Schaufenster stellte die mit Säulengängen ausgestattete Arkade ein, wie Gruen erklärte, “essentiell städtisches Ambiente” her. Die städtische Identität des 30-Millionen-Dollar-Komplexes bestätigte zudem ein Mix aus ca. 100 Geschäften und zahlreichen zivilgesellschaftlichen Einrichtungen wie z.B. Konferenzräumen, einem Kindergarten und einem Zoo. Northland Center, schwärmte Gruen bei der Eröffnung am 22. März 1954, war das “erste Einkaufszentrum der Zukunft.”
Zwei Jahre nach der Realisierung des regionalen Einkaufszentrums in Detroit eröffnete die erste vollklimatisierte Shopping Mall in Minneapolis, die nun über zwei Etagen zwei Kaufhäuser, 72 Geschäfte und zivilgesellschaftliche Einrichtungen um einen ausgedehnten, überdachten Innenhof organisierte. Gruen argumentierte, dass alle großen europäischen Städte auf einer soliden Kombination aus kommerziellem und zivilgesellschaftlichen Raum gebaut waren. Im Gegensatz dazu, so kritisierte Gruen, stellten die amerikanischen Vorstädte mono-funktionale Teppichlandschaften dar, die sich aus Ansammlungen individueller Eigenheimen zusammensetzten. Zur Stärkung des zivilgesellschaftlichen Lebens in den öden Ausdehnungen schlug Gruen vor, diese mit sogenannten “Shopping Towns” zu versetzen. Als ein Mann mit großen Visionen propagierte der selbsternannte “people’s architect” den Bau gigantischer Projekte, die kommerzielle und zivil-gesellschaftliche Aktivitäten in sich vereinten und Kristallisationspunkte des suburbanen Gemeinschaftslebens markierten.
Es war nicht einfach, Sponsoren für ein Projekt dieser Größenordnung zu finden. Gruen musste seine Ideen vermarkten: Er machte sich die Ängste des Kalten Krieges zu nutzen und präsentierte das hermetisch abgegrenzte Einkaufszentrum als Bunker- und Evakuationszone im Falle eines kriegerischen Angriffs. Im Kontext der aggressiv propagierten “Philosophie der Eindämmung” bot das Zentrum bald ein konkretes Symbol der Eindämmung, das zwei zentrale Funktionen verband: Nach Innen hin, also zu den Einkaufenden, signalisierte das Einkaufszentrum Sicherheit, Schutz und Zuflucht. Es versorgte die entwurzelten BewohnerInnen der aus dem Boden gestampften, suburbanen Projekte mit einem sinnstiftenden, affektiven Anker. Nach Außen hin, in die Richtung der rivalisierenden Sowjetunion und SympatisantInnen des Kommunismus, signalisierte das Einkaufszentrum die Überlegenheit des Kapitalismus; das Einkaufszentrum galt als materialisierter Beweis für die Prinzipien des sozialen Egalitarismus und die Freiheit der Wahl, die anscheinend dem Konsumismus eingeschrieben waren.
Mit seiner Ikonografie des Bunkers bot das Einkaufszentrum eine räumliche Übersetzung der außenpolitischen Strategie der Eindämmung und etablierte dabei die materialisierte Voraussetzung für weitere, subtilere Formen der sozialen und kulturellen “Eindämmung.” Das Einkaufszentrum unterstützte die “Eindämmung” von Frauen, die sich nach der Rückkehr der männlichen Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Erwerbsmarkt zurückzogen und ihre Arbeitskraft in Kindererziehung, Hausarbeit und Konsum investierten. Und es bot den fast ausschließlich weißen BewohnerInnen der Vorstadt eine bewachte Sicherheitszone, die zwar Urbanität simulierte, aber gleichzeitig soziale Homogenität versicherte. Aufgrund dieser Konstellation ist die Geschichte des Einkaufszentrums unvermeidlich an die Geschichte der rassistischen Politik der “Eindämmung” in der Vorstadt geknüpft.
Gruen hatte das Konzept “Shopping Town” erstmals 1943 im Zuge eines nationalen Wettbewerbs um die Gestaltung der Stadt im Jahre “194x”, d.h., jenes unbekannte Jahr, in dem der Zweite Weltkrieg zu Ende sein sollte, beworben. Als Gruen Mitte der fünfziger Jahre dann in der Lage war, seine Träume zu realisieren, versinnbildlichte seine Einkaufsstadt etwas weit größeres als Gruen selbst in seinem Konzept vorgesehen hatte. Zwischen Gruens erstem Entwurf und dem pilzartigen Aus-dem-Boden-Schießen der Einkaufszentren eineinhalb Jahrzehnte später begann sich die Rolle des Konsums in den USA grundlegend zu verändern: Konsumismus war nicht mehr eine, sondern die treibende Kraft im Nachkriegsamerika. Innerhalb von fünfzehn Jahren hatten die einvernehmenden Kräfte des Kommerz und die Profitgier der Immobilienspekulationen sämtliche zivilgesellschaftlichen Räume absorbiert, die Gruen ursprünglich in das Konzept des Einkaufszentrums eingeschrieben hatte. Aus den polyfunktionalen “shopping towns” wurden gigantische Verkaufsmaschinen. Noch in den fünfziger Jahren hatte Gruen mit seiner “Shopping Town” versprochen, das Leben der Frauen in der Vorstadt zu erleichtern und Shopping in das Leben zu integrieren. Aber während Shopping den Weg in das Zeitalter des Postindustrialismus bereitete, wurde die Shopping Mall zum Motor der neuen Konsumökonomie: Die Mall integrierte das Leben ins Shopping.
In den sechziger Jahren, während die amerikanische Mittelschicht geballt aus der gemischten Innenstadt in die segregierte Vorstadt floh, wandte sich Gruen der Revitalisierung vernachlässigter Stadtzentren zu. Sein Büro übertrug den suburbanen Bautyp der Shopping Mall auf den innerstädtischen Bereich, führte die urbane Mall als architektonischen Prototypen ein und trug letztendlich wesentlich zur Kommerzialisierung der Innenstädte bei. Ende der sechziger Jahre, als viele US-amerikanische Städte in Flammen aufgingen, kehrte Gruen nach Wien zurück. In einer Geste, die kaum symbolischer hätte sein können, erkannte die Wiener Architektenkammer Gruen den Berufstitel “Architekt” ab, da er als verfolgter Jude im national-sozialistischen Wien es verabsäumt hatte, sein Studium abzuschließen. Vor Gericht wurde Gruen gezwungen, seinen Titel in Österreich nur noch mit “c” – wie “architect” – zu führen und der Kammer 10.000.- Schilling in Form einer “Spende” zu bezahlen. Gruen nahms mit Galgenhumor und meinte, “hoffentlich wird mich der Kellner im Landtmann ab jetzt mit Herr Architect ansprechen!”. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf das Konzept der Stadt der kleinen Wege, gründete das “Zentrum für Umweltfragen” (1973) und veröffentlichte die “Charta von Wien”, die als Gegenentwurf zu Le Corbusiers “Charta von Athen” die Prinzipien einer menschengerechten Stadt in höchster Kompaktheit und größtmöglicher Verflechtung verfolgte. In seinem Wiener Büro arbeitete er an einem Modell zur Revitalisierung des Wiener Stadtkerns. “Alle Maßnahmen, die ich vorschlug, stießen bei der Stadtverwaltung auf offenen Widerstand. Die Planungsbürokratie bestand aus Spezialisten, die unfähig waren, universell zu denken und an ‚Autoneurosis’ litten,” kommentierte Gruen in seiner unveröffentlichten Autobiografie. Mitte der siebziger Jahre wurden Kärntnerstraße und Graben verkehrsberuhigt, auf der grünen Wiese am Stadtrand Wiens entstand Europas erste Shopping Mall, und Gruen musste sich der Ironie seines Lebens stellen: Während er versucht hatte, das alte, europäische Stadtzentrum auf die US-amerikanische Vorstadt zu übertragen, war die Shopping Mall in die europäischen Städte vorgedrungen und drohte sein Modell des urbanen Lebens zu zerstören. Für den Rest seines Lebens betonte Gruen, Immobilienkonzerne hätten sein Konzept der Shopping Town entführt und zu reinen “Verkaufsmaschine” reduziert. Er “stritt die Vaterschaft ein für allemal ab” und weigerte sich “Alimente für diese Bastardprojekte zu bezahlen.”
1) Victor Gruen: Eine Autobiografie. Springer Verlag: Wien/New York 2012
Anette Baldauf, Soziologin und Kulturtheoretikerin, ist Professorin am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften an der Akademie der Bildenden Künste, Wien.